Statt einer Einleitung: Pausengespräche
In der Pause einer Konferenz kommen eine Teilnehmerin und ich ins Gespräch. Meine Gesprächspartnerin, Führungskraft eines international aufgestellten mittelständischen Unternehmens, ist fasziniert von den Möglichkeiten der Theory of Constraints (TOC): „Das ist genau das, was wir jetzt für unser Unternehmen gebrauchen können.“ Denn, so erzählt sie weiter, zu viele der Projekte des Unternehmens würden nicht rechtzeitig fertig, Lieferzusagen könnten viel zu häufig nicht eingehalten werden. Das führe nicht nur zu massiv verärgerten Kunden, sondern überlaste auch die Mitarbeiter, die durch andauerndes Multitasking „ausbrennen“… Und dann wäre da auch noch die Angst vor einem wirtschaftlichen Abschwung, sodass das Unternehmen noch zusätzliche Aufträge angenommen habe, obwohl dafür eigentlich keine Kapazitäten mehr vorhanden seien. Am Ende dieser dramatischen Zustandsbeschreibung hält meine Gesprächspartnerin kurz inne, zuckt mit den Schultern und sagte dann resigniert: „Aber momentan können wir daran nichts ändern. Denn es gibt gerade einen Wechsel im Vorstand.“
Ich bin verblüfft über diese Wendung unseres Gesprächs und frage deshalb noch einmal genauer nach. Meine Gesprächspartnerin bleibt dabei: Auch wenn der Handlungsdruck akut sei und man deshalb eigentlich keine Zeit verlieren dürfe – solle doch erst einmal alles beim Alten bleiben. Denn: „Man könne und wolle einen neuen Vorstand mit etwaigen Veränderungen doch nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen.“
Einige Wochen später. Ein anderer Ort, ich halte einen Workshop für Führungskräfte. Und wieder ergibt sich ein interessantes Pausengespräch mit einem Teilnehmer, Führungskraft eines kleineren mittelständischen Betriebs. Auch er ist beeindruckt von TOC und sieht sofort konkrete Ansatzpunkte, wo eine Implementierung im eigenen Unternehmen äußerst wirkungsvoll wäre. Denn hoher Kostendruck und lokale Optimierungen hätten dazu geführt, dass eigentlich notwendige Investitionen „für morgen“ eingespart werden. Mittelfristig sieht er dadurch sogar die Liquidität des Unternehmens gefährdet. Und auch hier nimmt das Gespräch die bereits oben beschriebene Wendung. In diesem Fall ist es ein neuer Geschäftsführer, der in 2-3 Monaten komme und dem man „keinesfalls vorgreifen dürfe“.
Eigentlich erkennen beide Gesprächspartner:innen Probleme im Unternehmen, die sie lösen wollen. Und dennoch haben beide für sich die Entscheidung getroffen, die Probleme jetzt nicht zu lösen. Eine Entscheidung, mit der beide Gesprächspartner:innen spürbar haderten.
In diesem Blog möchte ich deshalb mit Ihnen anhand dieses Beispiels über Zwickmühlen sprechen. Also über „eine schwierige, verzwickte Lage, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint“ (zitiert nach Duden). Und darüber, unter welchen Voraussetzungen sich diese Zwickmühle dennoch konstruktiv nutzbar machen lässt.
Mission: „Entscheidung impossible“?
Ein Vorstandswechsel steht an – in einigen Monaten. Oder die Selektionsphase für den vakanten Posten im Top-Management hat gerade erst begonnen. Oder die neue Geschäftsführung ist noch in der Einarbeitungs-/Orientierungsphase.
Ein Wechsel in den Schlüsselpositionen führt in Unternehmen und Organisationen immer wieder dazu, dass notwendige und sinnvolle Entscheidungen in die Zukunft verschoben werden.
Dass hier so vorgegangen wird, erfolgt in allerbester Absicht, zum Beispiel um
der neuen Führungskraft einen guten Einstieg zu ermöglichen
der neuen Führungskraft nicht vorzugreifen, sie nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen
sich selbst zu schützen, d. h. vor möglichen ungünstigen Auswirkungen von Entscheidungen, die dann von der neuen Führungskraft kritisiert und ggfls. sogar sanktioniert werden könnten.
Alles soll so bleiben wie es ist, bis zum Zeitpunkt X. Die Organisation, das Unternehmen soll auf Basis bereits getroffener Entscheidungen auf Kurs bleiben, sicher und stabil im Tagesgeschäft weiter funktionieren. Kurzum: Man möchte den aktuellen Status quo einfach konservieren.
Eine Wunschvorstellung. Und ein gefährlicher Irrtum.
Das Erhalten von Stabilität ist ein wichtiges Unternehmensziel, denn ein instabiles Unternehmen hat nur geringe Chancen auf langfristigen Erfolg. Allerdings, um langfristig stabil zu bleiben, muss ein Unternehmen gerade auch den Fokus in die Zukunft richten können. Denn Veränderung findet permanent statt – und das mit ständig zunehmender Dynamik in der sich Märkte oder auch Kundenbedürfnisse wandeln und Produktlebenszyklen verkürzen. Veränderung ist für Unternehmen deshalb Alltag und es ist überlebenswichtig, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und dafür auch die notwendigen Entscheidungen jederzeit herbeiführen zu können.
Gute Absichten sind keine Garantien für eine gute Zukunft
Stabilität sichern, das Unternehmen soll auf Kurs bleiben, Risiken vermeiden: Lauter gute Absichten werden auf der einen Seite in die Waagschale geworfen. Man könnte jedoch auch fragen: Gute Absicht („Man will niemanden vor vollendete Tatsachen stellen bzw. niemandem vorgreifen“) – jedoch sind die Auswirkungen dieser Entscheidung tatsächlich die gewünschten?
Dr. Alan Barnard, international führender TOC-Experte, unterscheidet zwischen Fehlern der Handlung (das Falsche tun oder das Richtige falsch tun) und der Unterlassung (das Richtige nicht tun). Die Angst zu Scheitern verleitet Menschen dazu, lieber nichts zu unternehmen als das Falsche. Dabei kann ein „Fehler der Unterlassung“ oft ebenso große negative Folgen haben, durch verpasste Gelegenheiten etwa oder dadurch, dass ein Problem nicht beseitigt wird.
Gute Absichten und potenziell ungünstige Auswirkungen liegen also eng zusammen. Denn mit dem „Warten“ und den damit verbundenen guten Absichten können zugleich auch folgende negative Konsequenzen verbunden sein:
Die neue Führungskraft trifft in der Regel erst einige Monate nach ihrem Eintritt grundlegende Veränderungsentscheidungen. Erst wenn eine Entscheidung getroffen und umgesetzt ist, kann sie ihre Wirkung für das Unternehmen entfalten. Auf die neue Führungskraft zu warten, verzögert den Eintritt der Wirkung also um mehrere Monate. Das kann dramatische Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit (die Mitarbeiterinnen, das Image, den Gewinn…) des Unternehmens haben und damit auch die neue Führungskraft erheblich beeinträchtigen.
Eine neue Führungskraft beurteilt ihre neuen MitarbeiterInnen in der Regel auf Basis der Entscheidungen und Handlungen der jüngsten Vergangenheit. Werden durch das Warten Entscheidungen oder Handlungen verzögert, entsteht daraus der Eindruck von Trägheit, was Auswirkungen auf das zukünftige Klima der Zusammenarbeit sowie auf die zukünftige Entwicklung der beteiligten Menschen hat.
Beim Warten auf die neue Führungskraft – unabhängig davon, ob sie noch gar nicht ausgewählt ist, ihr Eintritt erst in der Zukunft bevorsteht oder sich diese noch in der Einarbeitungsphase befindet – entsteht also eine Zwickmühle für die „Wartenden“:
Auf der einen Seite müssen sie auf die neue Führungskraft – und auf die Entscheidungen, die diese treffen wird – warten.
Auf der anderen dürfen sie genau das nicht tun, „einfach nur“ warten, bis die neue Führungskraft kommt und dann Entscheidungen treffen wird.
„Leben ist gelebte Ambivalenz“ (Gunther Schmidt)
Das Gefühl kennt jeder, zwischen allen Stühlen zu sitzen, in einer Zwickmühle zu sein: Auf den ersten Blick scheint vieles für Entscheidung 1 zu sprechen, auch wenn diese mit einigen Nachteile verbunden ist. Jedoch gibt es da noch Entscheidungsmöglichkeit 2, frei von jenen Nachteilen, allerdings wäre eine Entscheidung für Option Nr. 2 wiederum mit bestimmten Risiken verbunden …
Wenn man etwas tut oder eben nicht tut: Beides hat seinen Preis, beides hat sowohl Vor- als auch Nachteile. In manchen Situationen ist diese Ambivalenz bewusster wahrnehmbar als in anderen. Weil der Preis einer Entscheidung als besonders hoch empfunden wird. Weil eine eindeutige, widerspruchsfreie Entscheidung gewünscht, aber tatsächlich selten realisierbar ist. Denn: „Leben ist gelebte Ambivalenz“ (Dr. Gunther Schmidt, Begründer der Hypnosystemischen Therapie).
In meinen Workshops fällt mir immer wieder auf, wie wichtig es für die Teilnehmer ist, Absicht und Wirkung wieder unterscheiden zu können, sich Zeit für diesen Denkprozess zu nehmen, sich Zeit dafür zu nehmen, strukturiert und lösungsoffen diskutieren zu können: Was ist Deine Absicht, was sind die Auswirkungen? Beides auseinanderzuhalten, sich nicht in eigene Gedankengänge zu verstricken, sondern von außen aus einer Art Steuerposition auf die eigene Situation oder zum Beispiel auf eine Situation im Team oder auf das gesamte Unternehmen zu schauen.
Denn der Moment, in dem einem klar wird: „Ich habe vielleicht die tollsten Absichten – aber die Auswirkungen passen nicht“, der verändert viel; dass man für sich erkennen kann: „Es macht keinen Sinn mehr, so weiterzumachen wie bisher, denn die Auswirkungen sind einfach nicht die gewünschten.“
Im Kontext eines Unternehmens treten Zwickmühlen beispielsweise bevorzugt bei Veränderungsprozessen auf. In dieser Situation das Alte bewahren zu wollen, kann ein wertzuschätzender Lösungsversuch sein, mit dem das Risiko einer Veränderung zum Schlechteren ausgeschlossen werden soll.
Bitte warten oder lieber doch nicht?
Werden in größeren Organisationen strategische Veränderungen, trotz besseren Wissens dennoch nicht angegangen, dann hängt dies häufig sehr eng mit einer der eingangs erwähnten guten Absicht zusammen: eine Verschlechterung verhindern zu wollen. – Oder anders gesagt: Es geht um Reputation bzw. um die Angst vor Reputationsverlust.
Deshalb wünschen sich Verantwortliche eine Veränderung, bei der nicht nur plausibel der Weg zum gewünschten Erfolg „vorgezeichnet“ wird, sondern die Veränderung ohne signifikante Risiken für das Unternehmen ist, jederzeit verändert oder unterbrochen werden kann. Denn stößt jemand einen Veränderungsprozess an und dieser misslingt, dann steht diese Person deutlich mehr in der Wahrnehmung anderer – und ihrer Urteile – als wenn der- oder diejenige genau so weitergemacht hätte wie bisher. Auch wenn dieses „weiter wie bisher“, nicht besonders erfolgreich ist.
„Return on investment“ ist deshalb für mich und VISTEM ein zentraler Schlüssel. Dass die Führungskraft, die die Veränderung initiiert, eine Verbesserung gegenüber dem früheren Zustand realisieren kann. Deshalb wollen wir „Return on investment“ nicht nur in Bezug auf investiertes Geld verstanden wissen, sondern genauso in Bezug auf die investierte Zeit des Managements wie auch auf die eingesetzte Reputation.
Unter welchen Voraussetzungen sollte es also möglich sein, eine Entscheidung für die Veränderung zu treffen und Maßnahmen zu realisieren – auch wenn das Unternehmen gerade auf die Neubesetzung einer Schlüsselposition wartet?
Die Voraussetzung sollte sein, wenn vollkommen klar ist:
Wofür ist die Veränderung erforderlich? Geht es z. B. darum, einen entscheidenden Wettbewerbsvorsprung aufzubauen, der darin besteht, dass der Markt weiß, dass dieses Unternehmen außerordentlich schnell ist
Welches Ziel durch die Veränderung selbst erreicht werden soll, z. B. Alle Terminzusagen werden eingehalten oder/und „Die Projektlaufzeiten sind um 25 % kürzer als marktüblich“
Wie das Ziel erreicht werden soll
Dass die Auswirkungen der Zielerreichung für den Erfolg des Unternehmens signifikant sind
Dass durch die Zielerreichung eine Win-Win-Situation entsteht
Dass mit der Umsetzung der erforderlichen Maßnahme und der Zielerreichung keinerlei Risiko für das Unternehmen verbunden ist.
Dies ist durch das Schritt-für-Schritt-Vorgehen unseres Veränderungsprozesses möglich. Sollte einmal die erwünschte Wirkung ausbleiben, werden Korrekturmaßnahmen eingeleitet oder gegebenenfalls lässt sich die durchgeführte Veränderung schnell wieder zurücknehmen.
In der Praxis kann das bei „Projects that Flow – Mehr Projekte in kürzerer Zeit“ so aussehen:
Hier ist der erste Schritt, einen signifikanten Anteil der Projekte anzuhalten, einzustellen oder zu streichen. Und, welche Risiken geht ein Unternehmen hierbei ein? Stellen wir nach einer Woche fest, diese Maßnahme zeigt nicht die gewünschte Wirkung, also statt einer Zunahme der Beschleunigung, nimmt diese ab, dann werden die Projekte, die man zu Beginn gestrichen oder eingefroren hat, wieder aufgenommen. Aus meiner Sicht muss jeder Veränderungsplan aus genau solch einzelnen Schritten bestehen. Jeder einzelne Schritt hat jeweils das Potenzial für eine signifikante, positive Wirkung, ist aber selbst risikofrei.
Eine Entscheidung für eine Veränderung zu treffen,
nach erfolgreicher Klärung des
„Wofür“,
des Ziels,
des Weges dorthin,
der signifikanten Auswirkungen
und dann die entsprechenden Maßnahmen zu realisieren:
Eine neue Führungskraft kann und darf erwarten, dass genau dies geschieht und proaktiv umgesetzt wird.
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